08.05.2007

#9

ungeschminkte straßen (so sagt eine weibliche stimme aus dem off): tagsüber ungeschminkte straßen. wir sehen eine breitere, dann eine engere straße, geschäftige passanten. die häuser sind mit leuchtreklamen bepflastert. leuchtreklamen, die, weil tag ist, nicht leuchten. wir sind im viertel ginza. ginza ist (oder war) das vergnügungsviertel tokyos. das viertel, wo geschäftsmänner in bars einkehren, um von schönen frauen getränke eingeschenkt zu bekommen. wir sind in ginza zu einer tageszeit, wo noch keine kunden in ginza sind. und die weibliche stimme aus dem off, die hier anfängt ihre geschichte zu erzählen, benutzt folgendes bild: die bars / die straßen in ginza zu dieser tageszeit wie ungeschminkte gesichter.

gegen anfang des films bleibt die kamera zwei mal hinter ihr, hinter ihrem rücken, wartet bis sie den kopf zur seite dreht.
das erste mal: sie läuft, mit dem manager, über eine brücke. er bleibt stehen, die kamera bleibt auf seiner höhe stehen und sie macht noch ein paar schritte. wir sehen sie von hinten, wie sie noch ein paar schritte macht und dann stehen bleibt an der brüstung. sie schaut erst auf das wasser (oder: auf die schienen. oder was auch immer. ich kann mich nicht erinnern. sie schaut auf das überbrückte (und ich würde vermuten: sie sieht nicht mehr, als ich in meiner erinnerung)) und dreht dann ihren blick nach rechts, sodass wir ihr gesicht, ihr profil entdecken. sie sagt dabei: „ich hasse schnaps. ich muss jeden tag schnaps trinken, wegen der kunden, und ich hasse es“.
das zweite mal: kurz danach. eine enge straße in ginza. eine leiche wird getragen. die leiche eines mädchens. an einer kreuzung steht ein krankenwagen, davor eine kleine menschenmenge. sie steht auch da, blickt auf den krankenwagen. wir sehen sie, im vordergrund, ihren rücken, neben ihr eine zweite frau, mit der sie spricht, dahinter der krankenwagen, in den die leiche gebracht wurde. der krankenwagen fährt nach links ab. sie folgt ihm mit ihrem blick, dreht den kopf nach links, sodass wir ihr gesicht, ihr profil entdecken. sie sagt dabei nichts.

ungeschminkt: der film.
ein geschminktes gesicht, ein ungeschminktes gesicht. ein film über / um ein gesicht (und hier sei vermerkt wie schön das gesicht der hideko takamine ist). um viele gesichter: mit schminke, ohne schminke. ein gesicht ist eine fläche. ein film über / um / aus flächen, nebeneinander gestellt. gesichter, flächen, fassaden.
ungeschminkt gewissermaßen wie unschön, im sinne wo ein gesicht, das sich täglich schminkt, ungeschminkt unschön wirken würde.
oder ungeschminkt auch wie halb geschminkt. verwischte schminke.
nebeneinander gestellte gesichter, weil nebeneinander gestellt wird, was nebeneinander ist.
der film wandert von einer bar in die nächste. mädchen sitzen in einer bar, reden über sie, über ihre abwesenheit, dass sie mit dem boss einen termin hat. und dann sitzt der boss in einer bar, sie kommt herein…

sie wird krank. und zum ersten mal sieht man eine art landschaft, ein stadtbild mit offenem horizont. kleine häuser an einer wasserfläche. sie wohnt bei ihrem bruder, wo man das plätschern des wassers hören kann.
doch schnell versteht man: im haus des bruders ist es noch stickiger als in den bars in ginza.

ich erinnere mich an ein drittes mal (es gibt noch andere male, nur, ich kann mich eben an diese 3 male erinnern), wo sie mit dem rücken zur kamera steht und den kopf zur seite dreht, uns ihr gesicht entdeckt: in ihrer wohnung. der bruder ist da, der betrüger wird in wenigen augenblicken klingeln. sie steht in ihrem zimmer (sie wird in wenigen augenblicken weinen). sie dreht sich mit zorn nach links. sie sagt: „ich bin eure beute“.

das erste mal bei ihr zuhause hatten wir sie mit der jungen yuri gesehen. sie hatten zusammen gefrühstückt. sie hatte ihr von ihrer einsamkeit erzählt. von ihren tricks gegen einsamkeit (der alkohol…). sie hatte beim erzählen unentwegt gelächelt.

traurig, dachte ich, von anfang an todtraurig. eine ungeschminkte traurigkeit.
die dauer des films ist die zeit, die nötig ist, um die fläche dieser traurigkeit zu bemessen.

der breite stoffgürtel, den japanische frauen um ihren kimono tragen, wird obi genannt.
wenn sie nach einer langen nacht zuhause ankommt, wenn sie aus der bar in den hinterraum flüchtet, wenn sie schnaps getrunken hat, knetet sie mit ihren händen am vorderen teil dieses gürtels. sie drückt auf ihn, drückt dabei auf ihren bauch. sie windet dabei ihren oberkörper. sie zieht und drückt. sie kämpft mit einem stück stoff, das sie sich um die hüfte gebunden hat.


onna ga kaidan o agaru toki (wenn eine frau die treppe hinaufsteigt), japan 1960 (mikio naruse)

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