07.02.2007

#1

deine mutter hat mich verlassen, sagt er. er sagt es ein paar mal, er sagt es unterschiedlichen leuten. jedem sagt er es ein mal: deine mutter hat mich verlassen. (und dass sie dabei gewütet hat, dass sie ihm nichts gelassen hat, dass sie ihn an der hand verletzt hat)

(der raum der erinnerung)
sie sitzen in einem niedrigem raum mit wänden aus grauem beflecktem beton. die decke scheint nach links leicht abzusinken, es ist jedoch anzunehmen, dass dies einer verzerrung der kamera zuzuschreiben ist. auf einem kleinen niedrigen tisch mit heller sprelakat oberfläche stehen 2 thermoskannen. die hälfte des tisches und die unteren teile der 2 kannen werden durch ein rechteck schräg einfallendes lichts beleuchtet. es ist ein helles blendendes licht, das auf die glatte tischfläche strahlt und durch spiegelung auf die oberen teile der wände schimmert. rechts und links des tisches sitzen 2 männer, die anfangen karten zu spielen: ein schnelles kartenspiel. die karten werden energisch auf den tisch geworfen. bei jeder dieser bewegungen des etwas jüngeren mannes, der rechts vom tisch sitzt, interferiert sein arm mit dem den tisch erleuchtenden lichtstrahl und/oder mit den gespiegelten lichtstrahlen, die vom tisch abgeworfen die wände erleuchten. die lichtflecken auf den befleckten wänden bewegen sich im rhythmus der armbewegungen und der abgeworfenen karten, während der mann links vom tisch, der deutlich älter ist, anfängt, einen brief an eine frau laut aufzusagen. wenn wir uns wieder sehen, verschönern wir unser leben für mindestens 30 jahre. ich trinke einen schluck jugend und werde gestärkt zu dir zurückkommen, sagt er. danach geht es noch um kleider, um blumen, um ein auto und um ein haus: ein haus aus lava. und irgendwann ist das spiel zu ende gespielt, die punkte sind gezählt. die lichtflecken sind wieder erstarrt. es gibt keinen stift, den brief aufzuschreiben.

(gasse)
er kommt die stufen runter, beugt sich leicht nach vorne, um in den raum (eine werkstatt) zu schauen, beugt sich zurück, senkt den blick nach unten. ein mann in rot kommt aus dem raum, grüßt und sie steigen die treppen hoch. kurz danach sitzt er mit dem mann in rot an einem tisch und zeigt seine hand (das blut ist schon getrocknet), er hält sie hoch: eine längliche hand mit länglichen weißen fingernägeln.
das zweite mal: er kommt die stufen runter, beugt sich etwas stärker nach vorne, um in den raum zu schauen, beugt sich zurück, bleibt so stehen, nach einer weile, glaube ich, ändert er die blickrichtung, nach rechts oder nach links, ich weiss es nicht mehr genau, ich glaube, dass sein blick sich dabei leicht nach unten senkt. der mann in rot kommt aus dem raum, grüßt und sie steigen die treppen hoch. danach sitzen sie wieder am selben tisch.
später, etwas später sitzen sie wieder an einem tisch, in einem anderen raum (ein raum mit weißen wänden). der mann in rot schält einen apfel, gibt dem älteren mann den halben apfel.

(wiederholung des briefs)
er sagt: jeden tag erfinde ich neue wörter für dich, oder: jeden tag finde ich neue wörter für dich. er wiederholt den brief, vervollständigt ihn. der raum der erinnerung ist der raum des gesprochenen briefs. man betritt ihn durch eine holzbaracke. unter einem kleinen mit draht versehenem fenster werden kopfbedeckungen und taschen an 2 hacken aufgehängt.

(der raum der erinnerung)
sie sitzen am hellen sprelakat tisch, der von keinem einfallendem licht befallen ist. es sind stifte da, und der rechte mann, der jetzt wieder rechts vom tisch sitzt, nimmt einen stift und fängt an mit diesem stift die oberfläche des tischs zu zerkratzen. der linke mann, der jetzt wieder links vom tisch sitzt, diesmal jedoch mit dem rücken zu uns gekehrt, der linke mann hat einen plattenspieler auf den tisch gestellt, geöffnet und hat eine platte aufgelegt. mit seinen länglichen fingern hält er den rechten mann beim zerkratzen der tischoberfläche an. ich weiß nicht mehr, ob dabei etwas gesagt wird.

den raum der erinnerung gibt es nicht: er ist längst abgerissen worden.

(zwischen weißen wänden)
die weißen wände sind real. innen und außen: alle wände sind weiß. er (der ältere mann) liegt auf dem boden, die rechte hand auf der brust. die hand schlägt wie ein herz (sa main palpite): bei jedem rhythmischen drücken der 3. und 4. finger auf die brust werden die anderen finger sowie der handrücken leicht angehoben.

es gibt auch keinen himmel: nur ein strahlendes weiß. quelle scharfer lichteinfälle und diffuser spiegelungen: im treppenhaus, in der weißen wohnung, in den bruchbuden des abgerissenen viertels. es gibt keinen himmel: nur wände, mauern, flächen, und kantige öffnungen.

(wiederholung des briefs)
später im brief geht es auch um eine mauer, ich kann mich an den satz nicht erinnern: ich habe angst, die mauer zu errichten, oder: ich habe keine angst, die mauer zu errichten, oder: ich fürchtete mich davor, die mauer zu errichten, ich habe den sinn des satzes vergessen, ich glaube, ich habe ihn nie ganz verstanden. nur das weiß ich noch: dass er mit seinem maurerwerkzeug und sie mit ihrem schweigen die mauer errichtet haben (oder errichten, oder errichten werden, oder errichten könnten, oder nie errichten werden, oder…). nur das weiß ich mit sicherheit: er mit seinem werkzeug, sie mit ihrem schweigen.


juventude em marcha (colossal youth), portugal 2006 (pedro costa)

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